Dieser Artikel beruht auf dem archäologischen Führer zur gallo-römischen Vergangenheit Burgunds, den der Verfasser im Dezember 2004 veröffentlicht hat.(1)
Die heutige französische „région Bourgogne“ – nicht das Territorium der Burgunder im 5. Jh. oder des Herzogtums Burgund - soll hier als Teil des Römischen Reiches Gegenstand einer kurzen Betrachtung sein .
Antike Autoren haben leider keine Beschreibung der Städte und Sehenswürdigkeiten Burgunds hinterlassen, wie wir sie so anschaulich für Griechenland bei Pausanias finden. Caesar (100 – 44 v. Chr.), unser wichtigster Gallieninformant, konnte einige Nachrichten über Gallien, seine Bewohner und ihre Bräuche bei Poseidonius (ca. 135 – 51 v. Chr.) lesen, vielleicht noch bei Diodoros Siculus (gest. ca. 35 v. Chr.). Alle anderen, bei denen sich mehr als nur kurze Bemerkungen finden, haben später geschrieben, nach der Annexion Galliens durch Rom: Strabon (64 v. Chr. – 19 n. Chr.), Plinius der Ältere (23 – 79 n. Chr.), Tacitus (55 – 117/120), Cassius Dio (ca. 155 – 235), Ammianus Marcellinus (ca. 333 – 391). Der Informationsgehalt der Texte ist manchmal fragwürdig; damals gängige Clichés über die barbarische Welt und grell-unterhaltsame Passagen über das bizarre Äussere der Gallier, über wilde Ess-Bräuche und wunderliche sexuelle Gewohnheiten sind eingestreut. Mitteilungen über religiöse Riten geraten in die Nähe von Horrorszenen. Oder ist es unser modernes Bild vom Menschen, der unser Mitgefühl verdient, das uns manches unglaubhaft erscheinen lässt ?
Als „Gallienbuch“ der Antike empfinden wir Caesars Kriegsbericht De Bello Gallico an den Senat in Rom. Ich habe mit Gewinn seine nicht-militärischen Abschnitte wiedergelesen, weil sie in grossem Umfang selbst Erlebtes, eigene Beobachtungen und Caesar unmittelbar Mitgeteiltes über die Geographie und Topographie Galliens, über Allianzen und Streitigkeiten der civitates und ihrer Führer enthalten dürften. Eine Gesamtdarstellung ihrer Sitten und Bräuche lag nicht in des Feldherrn Absicht. Vielmehr verfolgte Caesar viel weiter reichende politische Ziele und schrieb deshalb letztlich Vertrauensbildendes, nämlich dass die Unterwerfung Galliens und seine Einverleibung in das Römische Reich sinnvoll gewesen seien und er unter erheblichen Gefahren für sich selbst und die römischen Streitkräfte erfolgreiche Arbeit geleistet habe.
Bezogen auf die Zeit nach der Annexion gibt es nichts, was einer Beschreibung Galliens als Reichsprovinz auch nur nahe käme. Für zwei Sektoren muss man eine kleine Ausnahme machen: Die Peutingersche Tafel (Ursprung im 2./3./4. Jh.) benennt Orte und Entfernungen über Landstrassen. In „Burgund“ gelegen, findet man 18 Orte, von denen die meisten noch heute bestehen, beispielsweise „Agetincum“ (Sens), „Aug. Dunum“ (Augustodunum, Autun), aber auch das rätselhafte „Boxum“. Ist „Boxum“ eine Art Erinnerungseintrag für Bibracte, die alte Hauptstadt der grossen Haeduer ? Eine weitere amtliche Quelle, die „notitia dignitatum“ (um 400 n. Chr.) gibt uns Hinweise auf die Verwaltungsstruktur Galliens mit einigen Einzelheiten zu den heute „burgundischen“ Gebieten.
Bei diesem Mangel an antiker Literatur kommt Inschriften auf Gebäuden, Denkmälern und Grabstelen eine hohe Bedeutung zu, um etwas über Menschen und ihr Leben sowie über die Verwaltung in der römischen Provinz Gallien zu erfahren. Neben voluminösen wissenschaftlichen Sammlungen gibt es einen bequemen Zugang zu literarischen Texten und Inschriften mit französischer Übersetzung bei Lucien Lerat, „La Gaule Romaine“. Paris 1986. Leider hat die teilweise des Schreibens kundige gebildete Schicht der Kelten, über deren beachtlich entwickelte Kultur immer mehr bekannt wird, keine beschreibenden Texte über ihre Organisation und Lebensweise hinterlassen; die in lateinischer oder griechischer Schrift verfassten, bisher bekannt gewordenen Texte sind kurz oder technisch wie der Kalender von Coligny, einer kleinen Gemeinde im Departement Ain, unmittelbar jenseits der burgundischen Grenze, früher von den Sequanern bewohnt.
Die heutige région Bourgogne liegt im Herzen des alten Gallien. Das Gebiet gehörte überwiegend den Haeduern. Sie waren vor der Unterwerfung Galliens mit Rom verbündet und auch von den meisten anderen civitates Galliens respektiert, wenn auch nicht als Führungs-civitas anerkannt. Der Norden und der Osten Burgunds war von Senonen und Lingonen bewohnt, deren Namen sich in den Städten „Sens“ und „Laingres“ erhalten haben; die Gegend um Dijon war lingonisch. Östlich der Saône sassen die Sequaner, seit alters Rivalen der Haeduer. Erst die Machtübernahme durch Rom hat nach sieben Jahren erbitterter Kämpfe und Massaker die alten innergallischen Auseinandersetzungen beendet. Alesia, zwischen Dijon und Avallon gelegen, Hauptort der Mandubier, war Schauplatz der letzten grossen Schlacht. Eine pompöse Statue des gallischen Oberbefehlshabers Vercingetorix mit den Gesichtszügen Napoleons III symbolisiert den Tod der keltischen Unabhängigkeit und gewissermassen die Geburt oder doch wenigstens die Zeugung von Frankreich.
Mit Abstand betrachtet, hatte Gallien dann das Glück, von verhaeltnismässig rationalen, weit blickenden und fähigen Politikern organisiert zu werden. Augustus und sein Schwiegersohn Agrippa integrierten das riesige neue Territorium als neue Verwaltungseinheit „tres Galliae“ in das Römische Reich. Die Gliederung in 60 civitates berücksichtigte weitgehend die gewachsenen Stammeseinheiten. Antike Schriftsteller vermerken, dass beide Politiker sich persönlich der ersten Steuerveranlagung gewidmet haben, der Grundlage für einen stetigen Geldsstrom in die kaiserlichen Kassen. Burgund liegt überwiegend in dem Provinzsegment „Lugdunensis“. Die administrative Gliederung wurde jedoch immer wieder geändert, besonders durchgreifend unter Diokletian, und Teile von Burgund liegen in den Provinzen „Belgica“ und „Obergermanien“. Bibracte, die alte Hauptstadt der, wie bereits erwähnt, politisch zur Spitzengruppe der civitates zählenden Haeduer wurde zwar nicht Hauptstadt der „tres Galliae“, aber man mag eine Fortwirkung des alten Vertrauens von Rom in die Haeduer darin sehen, dass ein Mann dieses Stammes zum ersten sacerdos der „ara Romae et Augusti“ in Lyon, der neuen Provinzhauptstadt bestellt wurde (12 v. Chr.). Die „ara Romae et Augusti“ war Versammlungsort für Vertreter aller civitates und bot damit erstmals Gelegenheit zu einer gemeinsamen politischen Willensbildung der Stämme in der Provinz – soweit Rom sie zuliess.
Militärische Interventionen in Gallien blieben aber weiterhin erforderlich. Im grossen und ganzen scheinen die Provinzbewohner recht friedlich gewesen zu sein, dennoch gab es gelegentlich heftige Beschwerden und sogar Aufstände, vorwiegend gegen die als unerträglich empfundene Steuerlast. Germaneneinfälle, für deren Abwehr nunmehr Rom verantwortlich war, begleiten die ganze Geschichte der Provinz. Natürlich war Gallien auch Aufmarsch- und Rückzugsgebiet für das römische Militär, das Germanien erobern und später halten sollte. Burgund war darüber hinaus auch Schauplatz innerrömischer Auseinandersetzungen, bei denen ehrgeizige Männer mit mehr oder weniger privaten Armeen darum kämpften, zu augusti oder caesares der römischen Westprovinzen aufzusteigen. So wurde Clodius Albinus im Jahre 197 bei Trinurcium (wahrscheinlich Tournus) geschlagen, Magnentius wurde am 18. Januar 350 nach einem Abendessen in Autun getötet (seine Büste im Musée Denon, Chalon-sur-Saône). Im Gegensatz zu der Situation in Germanien waren römische Truppen nach 12 v. Chr. nicht mehr in der Provinz ständig stationiert. Das einzige grössere Lager in Burgund wurde bei Mirebeau-sur-Bèze (Côte-d’Or) betrieben, und nur für einen Zeitraum von zwanzig Jahren (70 – 90 n. Chr.).
Die erfolgreiche Eingliederung Galliens in das römische Herrschafts- und Finanzsystem durch Augustus und Agrippa legte den Grund für eine Friedenszeit von 200 bis 300 Jahren. Praktisch wurde das Land in den grossräumigen Binnenmarkt und die hoch entwickelte Mittelmeerkultur der Zeit einbezogen. Während auf einigen Gebieten wie dem Steuerwesen der römische Einfluss sich sofort bemerkbar machte, dauerte es 100 Jahre, bis die Haeduer Mitglied des römischen Senats werden konnten (48 n. Chr.). An der Provinzverwaltung wurden Gallier allerdings bereits früher beteiligt. Viel später erst, im Jahre 212 unter Caracalla, 263 Jahre nach der Eroberung durch Rom erhielten die Provinzbewohner Galliens das römische Buergerrecht – nicht früher und nicht später als in den anderen Provinzen – nur die Lingonen, die nicht gegen Rom gekämpft hatten, waren wie Tacitus berichtet, bereits im Jahre 69 n. Chr. unter Kaiser Otho römische Buerger geworden.
Was ist nun archäologisch von diesen Zeiten in Burgund übrig geblieben ? Hier muss ich mich auf eine notwendigerweise subjektive Auswahl beschränken, von der ich nur hoffen kann, dass sie das wesentliche trifft.
Wir finden in Städten wie Autun, Sens und Chalon-sur-Saône das rechtwinklige Strassenraster und die im römischen Reich üblichen öffentlichen Gebäude: Tempel, Bäder, Theater, Mauern und Tore (zunächst nur in Autun), reich ausgestattete Stadtvillen, Aquaedukte, Handwerksbetriebe, Ladengeschäfte, Grabmäler. Grösse und Pracht der Säulenkapitelle und Friesblöcke, die in den Museen und Lapidarien zu sehen sind, legen Zeugnis davon ab, dass man die Monumentalarchitektur der Stadt Rom als Modell sah. Wer Burgund bereist, trifft aber auch auf die ausgegrabenen Reste von Kleinstädten und dörflichen Siedlungen wie Alesia (Côte-d’Or), les Bolards bei Nuits-Saint-Georges, Champallement (Nièvre) mit seinem achteckigen Tempelgrundriss, Mâlain bei Dijon, Vertault (Côte-d’Or). Bei Arleuf im Morvan liegt in freier Landschaft ein kleines Theater („Les Bardiaux“). Es gibt die Überreste grosser Heilbad- und Kultanlagen in Fontaines Salées (Yonne) bei Vézelay und an den Sources de la Seine (Côte-d’Or) nicht weit von Dijon. Reste eines gewaltigen Baukomplexes, der einer villa zugeordnet wird, sind in Escolives-Sainte-Camille (Yonne) freigelegt worden, ein grosses Mosaik aus einer villa ist an Ort und Stelle in Migennes (Yonne) zu betrachten. Eine weitläufige Kultlandschaft umgibt Entrains-sur-Nohain/Ménestreau (Nièvre). Mitten in den Weiden von Cussy-la-Colonne, nicht weit von Beaune, steht eine einsame, im 19. Jh. restaurierte Jupiter-Gigantensäule. Töpferöfen wurden in Gueugnon (Saône-et-Loire) freigelegt. Anderen Überresten begegnet man unerwartet in entlegenen Gegenden zum Beispiel dem zierlichen Baldachin über einer Quelle bei Beuray-Beauguay unweit Saulieu (Côte-d’Or), den vier nebeneinander aufgestellten Reliefstelen bei Orches in der Nähe von Beaune und der unscheinbaren, nur bei gutem Licht „lesbaren“ Stele am Strassenrand in Pierre-Écrite zwischen Autun und Saulieu.
Wie schön die grösseren Orte dekoriert waren, kam zu Tage, als im 19. Jh. die spät-kaiserzeitlichen innerstädtischen Zitadell-Mauern von Sens, Auxerre, Dijon, Beaune, Chalon-sur-Saône, Tournus und Mâcon niedergelegt wurden und man dabei wundervolle Reliefblöcke von Denkmälern und öffentlichen Gebäuden entdeckte. Nach sechzehn Jahrhunderten im Verborgenen erfreuen sie uns heute insbesondere im Musée municipal Sens mit ihren Darstellungen aus der griechischen und römischen Mythologie.
Autun ist gegenwärtig das anschaulichste Beispiel gallo-römischer Kultur mit den zwei prächtigen Stadttoren, Porte Arroux und Porte Saint-André, mit der hoch aufragenden cella eines keltischen Umgangstempels, dem sog. Tour de Janus, mit der zerbröckelnden, ägyptisierenden Pyramide de Couhard, mit dem römischen Theater am Fussballplatz, das sich als einziges von insgesamt drei Theatern in Autun erhalten hat, sowie mit beachtlichen Resten einer sechs Kilometer langen Mauer aus augustäischer Zeit. Ein Besuch der städtischen archäologischen Museen beweist, dass nicht nur Autun, sondern auch Sens und Chalon-sur-Saône reiche Städte der Provinz Gallien im heutigen Burgund waren.
Ein engmaschiges Strassennetz verband die Orte. An die immer wieder durchgeführten Instandhaltungsarbeiten zur Gewährleistung schneller Kommunikation für Militär, Verwaltung und Wirtschaft erinnern Widmungsinschriften auf Meilensteinen, den hohen Stellenwert des Transportwesens repräsentieren auch kunstvolle Reliefs mit Beladungs- oder Abladeszenen (Beispiele im Musée archéologique Dijon). Flüsse hatten für den Transport eine grössere Bedeutung als heute. Aus dem Bett der Saône sind zahllose Bronzegegenstände geborgen worden (Musée Denon, Chalon-sur-Saône).
Fana, keltische Umgangstempel mit turmartiger cella, deren unterer Teil von einer Art Veranda umgeben war, behielten ihr architektonisches Design, wurden aber zunehmend aus Stein und opus caementicium, einer Art Beton mit eingebetteten Steinen, errichtet. Man kann diese Bauweise sehr gut an dem Janusturm von Autun betrachten. In religiösen Angelegenheiten war die römische Politik tolerant, vorausgesetzt die Kaiserverehrung war gewährleistet. Allerdings gibt es nur für jeden zehnten der 52 von Fauduet für Burgund erfassten Tempel Hinweise auf die dort verehrte Gottheit. Die keltische Götterikonographie bestand im Römischen Reich fort. Synkretistische Kultformen werden lange bestanden haben. In allen Teilen Burgunds fand man Votivgegenstände, die bemerkenswertesten aus Holz, Stein und Metall an den Sources de la Seine (Musée archéologique, Dijon).
Während die materielle Kultur sich allmählich weitgehend an das römische Modell anpasste, wofür zahllose Beweise vorliegen, sind grosse Gebiete der immateriellen Kultur nicht oder kaum erforscht, vielleicht sogar der Erforschung wenig zugänglich. Was wissen wir über die Anschauungen, die Werte, über Liebe und Verachtung, über Einfühlungsvermögen und Unterdrückung, über Selbstverwirklichung und Gastfreundschaft, über das Klima in privaten und öffentlichen Gemeinschaften jener Zeit ? Eine Archäologie des Unsichtbaren existiert praktisch nicht. Um ein wenig von den Werten und von allgemeinen Verhaltensmustern der Menschen zu erkennen, müssen wir den soliden Boden der Archäologie verlassen. Ich bin mir der etwas wagemutigen Vorgehensweise bei den nachstehenden Beobachtungen durchaus bewusst. Die beachtlichen Mengen von Grabstelen mit ihrer grossen Breite an Inschriften und bildlichen Darstellungen zeigen einen ausgeprägten Sinn für Pietät, für Liebe zu den Verstorbenen oder doch wenigstens für Respekt vor ihnen. Die Bilder von Paaren und Familien mit Kindern lassen erkennen, dass die eheliche Verbindung und die Familie als Lebensform geschätzt wurden. Offenbar gab es eine liebevolle Beziehung zu Haustieren – abseits von Landwirtschaft und Gastronomie - , wie wären sonst die kleinen Hunde und Katzen zu erklären, die neben den Verstorbenen stehen oder auf dem Schoss von Kindern oder Erwachsenen liegen ? Vogel- und andere Kleintierplastiken sind als Votivgaben, Spielzeug oder Wohnungsdekor aus dem Ton vom Allier und von anderen Lagerstätten in Burgund modelliert worden. Eine weitere Kategorie von Kleinplastiken bilden Büsten und Köpfe von Mädchen und Frauen, wobei eine bemerkenswerte Vielfalt an detailliert ausgeführten Frisuren nicht nur geschmackliche Raffinesse beweist, sondern auch das Bedürfnis, für sich und andere hübsch auszusehen (Beispiele im Museum von Nuits-Saint-Georges). Ein unverkennbarer Sinn für Schönheit kommt auch in den vielen dekorierten Kämmen, Ohr- und Fingerringen, Fibeln, Halsketten und Armkettchen zum Ausdruck. Vergessen wir in diesem Zusammenhang nicht die hübschen Venusfigürchen aus Ton, von denen die Männer der Lugdunensis nicht wenig angetan gewesen sein werden. Diese Beobachtungen werden durch die Literatur unterstützt; auch nach heutigem Empfinden strahlen die Gedichte von Ausonius (4. Jh., aus Bordeaux) ein hoch entwickeltes Schönheitsempfinden, Zartheit, Einfühlsamkeit und Emotionalität aus, wenn sie Bissula, ein Germanenmädchen von den Donauquellen beschreiben oder die Harmonie von Natur, Weinbergen und prächtigen Landhäusern an der Mosel. So lassen sich vielleicht doch einige Ansätze gewinnen, die über den unmittelbaren Eindruck der physikalisch-chemischen Überreste einer langen Epoche hinausgehen. Vielleicht hat der römische Einfluss die Kelten Galliens auch in ihren Einstellungen und Umgangsformen verändert. Grobe Barbaren, wie sie die antiken Schriftsteller überwiegend noch dargestellt haben, sind sie jedenfalls nicht geblieben – vielleicht schon im 1. Jh. v. Chr. nicht mehr gewesen.
Die Wirtschaft beruhte auf der Landwirtschaft, die bereits gut entwickelt war, als die Römer kamen. Das Arrouxtal zwischen Autun und der Loire beispielsweise wurde ebenso intensiv genutzt wie heute. Mehre hundert Landgüter mit den dazugehörigen Wirtschaftsgebäuden sind in Burgund lokalisiert worden. Landwirtschaftliche Produkte, auch verarbeitete Erzeugnisse wie Poekelfleisch, Textilien, Kissen und andere Polsterwaren sind sogar exportiert worden. Die Gallier hatten Wein schon immer geschätzt und bauten ihn jetzt selbst an – nicht ohne protektionistische Intervention aus Rom. Eisenerz wurde in den Gebieten Yonne und Nièvre zu Roheisen verarbeitet. Werkzeuge für das Handwerk und für die Landwirtschaft, für Bauten und Haushalte wurden nicht nur aus Eisen sondern auch aus Bronze hergestellt. Ob die für das römische Militär produzierende Harnischfabrik bei Autun Bleche und anderes Material aus anderen Teilen des Reiches bezog, wissen wir nicht.
Wegen ihrer Robustheit wird Keramik immer noch in grossen Mengen gefunden. Einige Töpfereien beherrschten die komplizierte Herstellung von terra sigillata und Metallglanzkeramik sowie von kunstvollen Statuetten. Grossbetriebe mit regionalem Kundenkreis gab es in ganz Burgund, in Gueugnon, Jaulges/Villiers-Vineux, Autun und Bourbon-Lancy. Gegenstände aus Holz oder Leder wie auch die farbigen Textilien, für die Gallien in der Alten Welt bekannt war, also alles was Tag für Tag das Aussehen von Menschen und Wohnungen bestimmt, ist bis auf winzige Reste für immer verloren gegangen. Gegenstände aus Knochen, die in der Antike recht verbreitet waren, haben sich gut erhalten, wo die Boeden nicht zu sauer waren. Waagen, Münzen und Reliefs mit Ladengeschäften und Transportszenen bezeugen verschiedene Funktionen des Handels ebenso wie die zahlreichen Importamphoren für Wein, Öl und Fischsossen.
Insgesamt kommt man zu dem Ergebnis, dass die Geographie Burgunds die Entwicklung einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur begünstigt hat mit guten Strassen von Lyon, der Provinzhauptstadt, nach Paris und den Kanalhäfen (Seehandel) und zum Rhein (Germanien), unterstützt von guten Landverbindungen vom Fluss-System Rhône-Saône zur Loire und zur Yonne/Seine. Die von Verkehr und Kommunikation ausgehende kulturelle Ausstrahlung liess die Städte an den Flüssen und Strassen in jeder Beziehung wachsen. Der lange Frieden ermöglichte auch den Orten auf dem Lande, an der Entwicklung teilzuhaben. Das Bauwesen, Werkzeuge, Herstellungsverfahren, Verarbeitungstechniken wie auch der Sinn für Gestaltung entwickelten sich überall in Gallien in grosser Breite unter dem Einfluss mediterranen Geschmacks und mediterraner Erfahrung. Vor der römischen Annexion waren die „Errungenschaften“ der Mittelmeerwelt allenfalls bis zu den Fürsten und den angesehensten Kriegern der hallstatt- und latènezeitlichen Kelten gedrungen. Die römische Annexion legte eine so solide Basis für Städte wie Sens, Autun und Chalon-sur-Saône, dass sie über viele Jahrhunderte hinweg bedrohliche Krisen überstehen konnten.
Als im 5. Jh. die Macht auf Franken, Burgunder und Westgoten und etwas später und fragmentierter auf Bischöfe überging, begannen andere Lebensformen; der weströmische Einfluss mit seinen zahlreichen positiven Impulsen erlosch. Konstantinopel ignorierte Gallien politisch, obwohl es natürlich vereinzelt Kontakte gab. Im Jahre 754 kam es zu einer Reise von Papst Stephan II aus Rom zu Karls des Grossen Vater Pippin, König der Franken mit dem Ziel, diesen um Militärhilfe bei der territorialen Expansion der Römischen Kirche in Italien zu bitten. Die Rollen hatten sich umgekehrt.
1. Ulrich Erdmann, Römische Spuren in Burgund. Ein archäologischer Reiseführer. Reichert Verlag. Wiesbaden 2004. ISBN 3-89500-352-2. (Mit Fotografien, Karten und Plänen)
- In Frankreich erhältlich u.a. im book-shop des Musée de Bibracte und im internet : www.librairie-archeologique.com, www.librarch.com www.abebooks.com, www.amazon.de